Gemälde Bäume


Die Geschichte vom laufenden Baum

Zweiter Teil

„…Das mag sein, aber das bedeutet doch nicht, dass Bäume es nicht auch könnten. Vielleicht wollen sie nicht laufen und fühlen sich an ihrem Ort wohl. Oder sie haben es noch nicht versucht, wie du. Also kannst du nicht wissen, ob du es nicht doch kannst.”
Dieses Gespräch verwirrte die Eiche sehr, sie wurde immer unruhiger, weil sich Traum und Wirklichkeit vermischten. „Eule, mir hat noch niemand gesagt, dass ich laufen könnte.”
„Als ich mich noch im Ei befand, sagte mir auch niemand, dass es ein Draußen gibt. Irgendwann probierte ich es aus. Ich pickte gegen die Eierschale. Warum sollten Bäume nicht laufen können. Tu es einfach.”
Plötzlich flog die Eule hoch, umkreiste die Eiche im Mondschein und rief: „Ich saß lange bei dir, jetzt muss ich weiter. Die Nacht ist kurz. Ich komme bald wieder.” Die Eule verschwand in der Dunkelheit.
Tu es einfach. Diese Worte hallten nach und umschwirrten die Eiche. Dieses „einfach” konnte sie sich nicht vorstellen. Was sollte daran einfach sein, etwas zu tun, was man nicht kann. Dieses „einfach“ wirkte auf sie erdrückend. Sich umschauend, fragte sie sich, ob ihre Nachbarbäume laufen könnten, aber es gar nicht wollten. Wäre es möglich? Sie hatte nie mit ihnen darüber gesprochen, nicht einmal den Gedanken gefasst, sie danach zu fragen.
Langsam glitt die Eiche von ihrer Grübelei hinein in einen tiefen Traum. Gehörte Worte wurden zu Bildern und verschoben sich immer weiter ineinander und erzählten neue, eigene Geschichten. Sie sah sich spielend auf grünen Wiesen laufen, in einem Bach schwamm sie mit Enten um die Wette, sah sich in einem Ei, wie sie sich mit ihren Zweigen durch die Eierschale in eine neue Welt hinein befreite.
Der Morgentau mit dem ersten Vogelgesang lockte die Eiche langsam aus ihrem Schlaf. Nebelbänke bedeckten die Wiese. Der Tag begann grau.
Tu es einfach! Warum sollten Bäume nicht laufen können? Wie konnte die Eule so vermessen sein, dachte die Eiche.
Das langsame Aufklaren des werdenden Tages belebte den Wald und seine Bewohner. Alles um die Eiche herum kam allmählich in Bewegung. In ihr breitete sich eine besondere Freude aus. Es erfüllte sie mit Glück, dass sie die Erde spürte, die ihre Wurzeln umgab. Dass die Eule so selbstverständlich zum Versuch riet, war eine Kraft, die wie ein Magnet zog. Jeder aufkeimende Zweifel unterlag dieser hoffnungsvollen Sehnsucht.
Als die Mittagssonne ihren höchsten Punkt erreichte und die überschwängliche Freude der Eiche sich langsam senkte, so wie der Nebel am Morgen, schlich sich eine nachdenkliche Ernsthaftigkeit in ihr ein. Die Eule empfahl, sie solle einfach laufen, aber wie läuft ein Baum? Sie bemerkte die Beine des Fuchses und der Rehe, ja sogar die der winzigen Ameisen.
Dann fiel ihr plötzlich ein, dass ihre Nachbarbäume vielleicht schon Erfahrungen mit dem Laufen hätten und ihr helfen könnten. Also fragte sie in die Runde ihrer Nachbarn, ob jemand ihr sagen könnte, wie Bäume laufen. Sie würde es gerne versuchen, wisse aber nicht wie. Außer dem Geächzte von Zweigen aus unterschiedlichen Richtungen bekam sie keine Antwort. Eine stille Traurigkeit setzte sich zwischen ihre Zweige. Hatte sie nach etwas gefragt, was nicht sein durfte? War sie zu weit gegangen? Aber sie hatte sich noch gar nicht bewegt, wie sollte sie da zu weit gegangen sein. In der wieder aufkommenden Beschwingtheit fand sie ihre Fragen nach dem Laufen eigentlich lustig. Als sich langsam der Abend näherte, empfand sie eine gelassene Ruhe.
Die folgenden Tage und Abende drängten die Erinnerung an das Gespräch mit der Eule zurück. Am ersten Abend hielt sie noch Ausschau, am Zweiten war es nur noch der Gedanke des Wiedersehens. Am Dritten, glaubte sie schon nicht mehr an einen Besuch und am Vierten genoss sie den sternenklaren Himmel, in den sich langsam der volle Mond hineinschob.
Der Zuspruch der Eule: „Tu es einfach!” hatte sich irgendwo hinter einem Stückchen Rinde versteckt, so dass vorerst keine Bedeutung mehr zu haben schien. Obwohl sie jeden Tag von allem, was an ihr vorbeilief ans Laufen erinnert wurde, genoss sie einfach diesen schönen Anblick ohne irgendeinen Anflug von Neid.
…So vergingen Tage, Wochen.
An einem wunderschönen Herbsttag, der durch Sonnenschein und leises Blätterfallen geziert war, sah die Eiche eine ungewöhnliche Ansammlung von Wildtieren auf der Wiese. Alles schien diesen Tag als einen letzten warmen Sonnentag zu feiern. Unter ihrer Krone ruhten zwei junge Rehe im Schatten. Hier und da fiel ein Blatt im taumelnden Flug zu Boden. Es war Herbst und alles sah dem kommenden Winter entgegen. Sein unerbittliches Heranrücken verlangte nach Zusammenhalt im ganzen Wald.
Auf einmal erschallte ein unglaublicher Knall. Das friedliche Miteinander auf der Wiese verlor sich in einem wilden Durcheinander. Alles stürmte auseinander! Alles floh!
Auf der anderen Seite der Lichtung entdeckte die Eiche einen Jäger, der mit seinem Gewehr erneut in Schussposition ging. Allem Anschein nach zielte er auf eines der Rehe, das unter der Eiche Schutz suchte. Durch alle ihre Äste hindurch durchlief die Eiche ein Schauer, von der höchsten Zweigspitze hinunter durch ihre Jahresringe bis zur tiefsten Wurzelspitze.
„Halt!”

  Zum dritten Teil

(Ein Auszug aus einem noch unveröffentlichten Roman von S.F. Ahrens)



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